Wankendes Weltbild

Liebes Tagebuch,

ich weiß nicht, wo ich anfangen und wo ich aufhören soll. Wie viele Gedanken sind mir in den letzten anderthalb Jahren durch den Kopf gegangen, die ich bis zum Jahr 2020 niemals hätte für möglich gehalten. Haben wir nicht bis vor Kurzem noch geschmunzelt, wenn wir vereinzelt Tourist:innen mit Mundschutz herumlaufen gesehen haben? Haben wir uns nicht neulich noch in Sicherheit gewägt, dass unser Leben in Saus und Braus so weitergehen würde wie eh und je? Waren wir uns nicht eben noch ganz sicher, dass unsere Grundrechte die Basis dieses Lebens sind und uns immer ein sicheres Leben ohne Krieg und große Einschränkungen gewährleisten werden?

Und plötzlich, gefühlt aus dem Nichts, ist all das ins Wanken gekommen und man hat einen weltweiten Krieg erklärt. Den Krieg gegen einen unsichtbaren Feind. Wörter, die uns völlig fremd waren, sind zum alltäglichen Thema geworden: Pandemie, Hygienebeauftragte(r), mRNA, Contact Tracing, die 1.,2.,3. Welle… Ich bin darüber erschrocken, wie schnell mir all die Sicherheit und das Urvertrauen in ein frei gestaltbares Leben unter den Füßen weggezogen wurde und besonders schockiert mich, wie einfach es war. Wie einfach es auch war, die Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Freie Entfaltung der Persönlichkeit, Allgemeine Handlungsfreiheit etc. „auszusetzen“. Und am allermeisten schockiert mich, wie schnell wir uns an das neue Leben gewöhnt haben. Ausgangssperre – was eben noch unmöglich schien, ist plötzlich nur noch eine Frage der scheinbar zufällig gewählten Uhrzeit des jeweiligen Bundeslandes „Muss man bei euch um 21 oder 22 Uhr zu Hause sein?“, und wird in etwa wie die Frage behandelt, wie viele Schuljahre es in anderen Bundesländern gibt: „Sind es bei euch 12 oder 13 Jahre bis zum Abitur?“

Vielleicht war irgendwo tief im Unterbewusstsein das Wissen verankert, dass das System, in dem ich großgeworden bin, nicht über mein gesamtes Leben das gleiche bleiben würde. Mit Mitte 20 fühlt es sich eben so an, als wäre Angela Merkel die Mutter des Landes und irgendwie eine gewisse Sicherheit für unser gutes gewohntes Leben. Doch je älter ich werde, desto mehr begreife ich, dass nichts bleibt, wie es ist und nichts kommt, wie man es erwartet. Aber die Erschütterung für einen jungen Menschen wie mich – und vermutlich für die allermeisten anderen auch – ist groß und ich habe schon von so vielen anderen gehört, die den Halt in dieser Zeit auch verloren haben. Wie schön wäre es in genau dieser Zeit gewesen, den Austausch mit den Generationen zu haben, die schon so viele Veränderungen durchlebt haben und die für all diese Gefühle und Sorgen Verständnis haben, aber vielleicht noch andere, ganz eigene Gefühle und Gedanken mit einbringen können. Ich musste sehr oft an meine verstorbenen Großeltern denken, die sowohl das nationalsozialistische Regime und den furchtbaren 2. Weltkrieg, sowie das DDR-Regime mit all seinen Mechanismen der Unterdrückung und Überwachung und zum Schluss den Einzug in die Welt des Kapitalismus und der Globalisierung miterlebt haben. Was diese Menschen für Gefühlswelten durchlebt haben müssen!! Wie gerne hätte ich in diesen Zeiten ihren Rat, Beistand und ihre Einschätzung der Situation gehört. Doch genau dieser Beistand und Zusammenhalt, was Menschen in Krisenzeiten am meisten brauchen, wird uns in Corona-Zeiten am schwierigsten gemacht. Und das ist meines Erachtens das Schlimmste, was der Gesundheit des Menschen passieren kann: Die psychosoziale Versorgung durch menschliches Beisammensein zu unterbinden. Und genau das ist zum Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen passiert. Es ist wie so oft in unserer Gesellschaft: Die oberflächliche, kurzfristige Gesundheit, also das was man wirklich sieht, wird über die tieferliegenden, psychischen und langfristigen Gesundheitsfragen gestellt.

Es gibt genügend Wissenschaftler:innen, die vor den langfristigen Folgen der Maßnahmen vor allem für Kinder und junge Menschen, aber natürlich auch für alle anderen, eindringlich warnen! Warum ist das so wenig präsent in der Politik, in den Medien, in den alltäglichen Diskussionen mit Bekannten? Warum wird das nicht mit in die Waagschale gelegt? Was hat es mit Solidarität zu tun, wenn ich Kinder in ihrer Entwicklung und freien Entfaltung so dermaßen störe, dass sie diese Prägung ihr Leben lang mit sich tragen werden? Wo sind all die Mütter und Väter, Omas und Opas, die das Beste für ihre Kinder wollen und für deren gesundes Leben einstehen?

Ich könnte ewig so weiterschreiben, denn es gibt so viele Fragen, die man stellen kann, doch es ist so schwierig, sie zu bündeln und in eine nachvollziehbare Reihenfolge zu bringen… Vielleicht versuche ich es ein andermal noch einmal.

Ich habe einfach großen Respekt vor all den Herausforderungen, die auf unsere Gesellschaft und auf mich in meinem Leben noch zukommen. Ich habe tatsächlich auch zum ersten Mal richtig Angst bekommen vor den Menschen, vor der Entwicklung unserer Gesellschaft und des Planeten Erde. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es vielen anderen so geht wie mir. Und trotzdem fühlt man sich damit oft so alleine …

Deshalb danke, dass ich bis hierher meine Gedanken mit dir teilen durfte, liebes Tagebuch.

geschrieben von Anna, 11.07.2021