Corona und die Gretchenfrage

Was mich am meisten an der Corona-Pandemie überrascht hat, ist wie nachhaltig sie das soziale Miteinander beeinflusst hat. Keine Unterhaltung, kein Treffen, kein Austausch, kein Gespräch, keine Unternehmung, ohne dass Corona mit anwesend ist. Corona prägt jede Begegnung, besonders aber betrifft sie uns in den Beziehungen, die uns wichtig sind, zu Freund:innen, Familie, Partner:innen, eventuell auch Arbeitskolleg:innen, Mitschüler:innen oder Mitstudent:innen. In vielen diesen Beziehungen kommt es zu Spannungen, Konflikten, Entfremdungen und Brüchen.
Corona ist zur neuen Gretchenfrage geworden. „Wie hältst du es mit der Pandemie?“ ist zum entweder expliziten oder impliziten Gegenstand von Begegnungen geworden und hat Beziehungen geprägt. In den wenigsten Begegnungen wird sie direkt oder überhaupt geäußert, man nähert sich ihr an und tastet sich vor. Corona ist zum unhintergehbaren Thema geworden. Auch wenn man nicht darüber spricht, steht es im Raum. Man traut sich nicht es anzusprechen, zu vage kann man sein Gegenüber einschätzen, zu sensibel vermutlich das Thema für den/die Andere/n. Dabei fungiert Corona gleichzeitig wie das Wetter und die Wahlen. Zum einen ist es unverfänglich solange man Belangloses oder Offensichtliches austauscht. Man kann den anderen zu seiner besonders kunstvollen Maske beglückwünschen oder man kann sich auf den neuesten Stand bringen, was die jüngsten Maßnahmen beinhalten und das gegenseitige Wissen diesbezüglich austauschen, solange man nicht fragt, was man davon hält. Inzwischen haben sich jedoch die jeweiligen Meinungen und Positionen verfestigt, die Gretchenfrage nimmt mitunter neue Bedeutungsdimensionen an (Wie hältst du es mit den Maßnahmen? Wie mit der Impfung?).
Keine soziale Beziehung war nicht in einer Form von Corona beeinflusst, auch jenseits der Überlegungen, wen und wie viele und mit wie vielen anderen man wo, wann, wie lange, wie oft und unter welchen Umständen sich sehen oder treffen darf. Geändert hat sich aber vor allem das wie.
In der Beziehung weiß man inzwischen einzuschätzen, wie der/die Partner:in tickt. Unterschiedliches Risikoempfinden, Pflichtgefühl, Gewissen, Angst und Unbehagen gegenüber den Regeln oder den Nachbarn führen zu Konflikten darüber, was man macht oder unternimmt oder eben nicht macht und unterlässt. In der Familie wird verhandelt, wen man besucht. Die Eltern und Großeltern oder lieber nicht? Mit Kindern oder lieber ohne? In Beziehung und Familie ist dabei viel Spielraum für Krisen gegeben. Kritisch, wenn auch nicht krisenhaft, wird es allerdings in Beziehungen zu Freund:innen/Bekannten/Verwandten und Begegnungen mit anderen kaum oder nicht bekannten Leuten, da man von diesen nicht genau oder gar nicht weiß, wie diese sich zu Corona verhalten, davon betroffen sind oder welche Meinung sie diesbezüglich vertreten. Die Unverfänglichkeit früherer Begegnungen ist dahin.
Mancherorts wurde bereits gemutmaßt, wie wir einmal auf die Corona-Pandemie in der Zukunft zurückschauen werden: als vergessbare Episode, als größter Einschnitt der Nachkriegszeit, als „Beginn der Überwachung“ (Y.N. Harari)? Selbst wenn die Pandemie morgen vorbei wäre, wird es eine Zeit gewesen sein, welche eine andere Form des Miteinanders, der sozialen Interaktion gezeitigt haben wird.
Ich hoffe nur, dass wir die Beziehung zu denen zu schätzen wissen und erhalten, welche uns in dieser Zeit näher gerückt sind, und uns früher oder später wieder mit jenen annähern, von denen wir uns entzweit haben. Früher scheint wünschenswert und dieses Tagebuch ein schöner Beitrag.
Liebe Grüße,
Hannes

geschrieben von Hannes, 09.072021